Donnerstag, 31. Oktober 2019

Tag 10: Vom Dorf adopiert.

Samstag, 26.10.2019
10. Wandertag
Pozo Pígalo (Zelt) nach Fuencalderas
6,5h (inkl. Pausen) / 16km 
613m hoch / 581m runter

Die Nacht war kälter als gedacht – will meinen: Mein Schlafsack war mal wieder dünner als sinnvoll. Mein Zelt ist so feucht von Tau und Kondenswasser, als ob es geregnet hätte. Die Sonne hat das tief eingeschnittene Tal noch nicht erreicht und es ist kühl, naß und ungemütlich. Ich stapfe auf der Wiese herum wie ein Extrem-Morgenmuffel, der noch keinen Schuck Kaffee bekommen hat.

Gegen 0830 Uhr höre ich das erste Auto den Berg heraufkommen, während ich gerade frühstücke. Es sind die Betreiber des Campingplatzes, die offensichtlich für das anstehende Schönwetter-Wochenende nochmal die Bar öffnen wollen. In der nächsten halben Stunde geht es Schlag auf Schlag mit ankommenden Autos und ich beeile mich, endlich mal in die Puschen zu kommen.

Ich steige auf der Forstpiste wieder ein Stück hinauf, zurück zum Abzweig des GR 1, des Sendero Histórico, ein spanischer Fernwanderweg vom Atlantik zum Mittelmeer. Der Pfad ist hervorragend markiert und von Gestrüpp freigeschnitten, also steige ich motiviert die nächste Stunde durch schattige morgenkühle Täler auf die Hochalm Casa de las Casas zu. Dort kriege ich endlich die Sonne zu sehen und kann nicht anders, als mich erstmal 10 Minuten auf einen Stein zu setzen und die Wärme zu genießen.


Weiter auf schmalen Räuberwegen zum nächsten Sattel, dem Collado de Erica la Fosa, von dort oben hör ich schon von Weitem Stimmen. Ok, ist ja auch Samstagmittag, irgendeine Gruppe scheint da oben unterwegs zu sein. Als ich am Sattel ankomme, sind sie schon weiter, ich habe das Panorama runter ins Tal Richung Biel für mich alleine. Beim Abstieg komme ich an alten verlassenen Steinterrassen vorbei, verfallenen Steinhütten – Zeichen davon, daß dieses Tal und diese Bergflanken mal bewohnt und bearbeitet wurden.


Aber lange vorbei, bis zum nächsten Ort Biel gibt es heute nur noch nen Parkplatz und eine Schotterpiste, auf der mir die nächsten Wochenendausflügler entgegen kommen. Biel duckt sich unter seinem zentralen Wehrturm, dem „Torre de Biel“ zusammen, die schmalen Gassen und uralten Holztüren wirken schwer aus der Zeit gefallen. Aber mein Kopf ist sowieso schon auf was Anderes ausgerichtet: Ich hab Hunger! Dieses ewige Snacken aus dem Rucksack ist ja nix Nchhaltiges und in Biel gibt es ein Restaurant, das natürlich an einem sonnigen Samstag zur Mittagszeit bumsvoll ist. Der Wirt hebt entschuldigend die Schultern, Mittag ist aus, macht mir aber zwei lecker Bocadillos mit Schinken und Tomate, dazu gibt’s eiskalte Cola und mehr wollte ich ja eigentlich gar nicht.



Durch die Berge bin ich jetzt für Erste durch, mehr oder weniger. Hier in Biel gibt’s nix zum Übernachten, nur eine leicht überteuerte Casa Rural für über 100 EUR die Nacht. Also ziehe ich weiter, vermutlich werde ich irgendwo zwischen den Feldern und Hecken auf der Strecke von Biel ins nächste Dorf Fuencalderas zelten. Die Landschaft hat sich schwer geändert, statt Bergwald und steilen Hängen hat es jetzt eher sanfte Hügel, kleine Felder mit Busch- und Gestrüppinseln dazwischen. Ich könnte auch auf der Straße nach Fuencalderas gehen, viel ist da eh nicht los, aber der GR1 läuft parallel auf alten Caminos und schmalen Pfaden zwischen den Welten hindurch. Der GR1 ist hier wenig begangen, das Unterholz hat an vielen Stellen schon den Weg wieder verschluckt und Büsche als Fallen ausgelegt – normalerweise würde ich wahrscheinlich schon bald genervt zur Straße rüberwechseln. Aber ich hab irgendwie im Urin, daß mir die Straße heute keinen Zeltplatz servieren wird, sondern dieser schöne – wenn auch anstrengende – Pfad zwischen den Feldern. Also kämpfe ich mich durchs Gestrüpp.


Kurz vor Fuencalderas liefert der Pfad dann auch: Eine frisch gemähte Wiese neben einem Wasserreservoir, kaum einsehbar, eigentlich perfekt für's Zelt. Es ist erst 1600, was ich ein bißchen früh für Schlafenszeit finde, also steige ich noch mit Sack und Pack hoch ins Dorf. Dort lockt die theoretische Aussicht auf eine Bar und siehe da, sie ist geöffnet, verkauft mit halbgefrorenes Bier und eiskalte Cola, ein Typ mit ein paar zuviel halbgefrorenen Bier intus spielt DJ am Tresen und hämmert einen 90er-Jahre-Rockklassiker nach dem anderen raus. Mehr pro forma frage ich den Wirt, ob es hier im Ort irgendwas zum Übernachten gibt, er wiegt bedächtig mit dem Kopf und fängt an, mir irgendwas zu erklären. Weil mein Spanisch dazu nicht reicht, läßt er den DJ alleine machen, winkt mich zur Tür raus, wir biegen um 2 Ecken und er zeigt auf eine alte Steinhütte am Hang, vielleicht 250m weiter. Dort könne ich schlafen. Die Hütte sei offen und für jedermann zugänglich. Ich sehe aus der Entfernung eine Bank daneben, sehe ein ordentliches Dach und habe mich in dem Moment schon entschieden. Da bleibe ich.

Zurück in der Bar trinke ich noch mein Bier aus, mein Rucksack wartet derweil draußen auf mich. Ein Nachbar schlendert vorbei, mustert interessiert und amüsiert mein Gepäck, setzt sich dann vor sein Haus und beginnt, in der Nachmittagssonne Walnüsse zu knacken. Ich ziehe rüber in die Casita und bin positiv überrascht: Die Hütte wurde vor kurzem renoviert, der Boden riecht noch nach nassem Beton und Baustaub, es gibt einen Tisch und vier Stühle, ein Bettgestell (Isomatte und Schlafsack drauf, das passt schon), eine Bank zum Draußensitzen und Aussicht auf's Dorf. Wasser oder Klo gibt’s nicht, aber wozu hat man da drüben die Bar...


Ich sitze glücklich in der Nachmittagssonne – nicht, weil Zelten heute so schlimm gewesen wäre, sondern weil ich diese Lösung nochmal viel charmanter finde. Ein Geländewagen biegt von der Straße ab und kommt den Weg zu mir rauf, es ist der nächste Nachbar, der im Garten nebenan nochmal schnell die Hühner rauslassen will. Wir quatschen ein bißchen, während er die Hühnermeute picken läßt, ich frage ihn zur Sicherheit auch nochmal, ob ich hier übernachten kann: Kein Problem. So entspannt läuft das also in Fuencalderas.

Mitte rechts,  am Ende des Wegen: "Meine" Casita für heute Nacht.

Auf meiner Bank vor der Hütte wird es kalt, ausserdem habe ich noch Lust auf was zu Trinken, also mache ich mich stadtfein und gehe wieder rüber zur Bar. Im Kamin brennt ein Feuer, es ist angenehm warm, ich bestelle mir ein Bier und werde recht schnell der Gesprächsmittelpunkt des Abends. Zwei Paare, die in Zaragoza wohnen, und fürs Wochenende in ihrem alten Heimatort Fuencalderas sind, ihre Teenie-Kinder sitzen draußen vor der Bar und daddeln mit dem Handy. Der alte Mann am Tresen in seinem 30 Jahre alten Strickpullover, dessen Spanisch so weit weg ist von dem, was ich verstehen könnte. Der neugierige Typ mit den Walnüssen, Tomás der Wirt. Er entspannte Hühnernachbar schaut später auch noch vorbei. Ich erzähle 85% englisch, 10% französisch und 5% spanisch, einer der Wochenend-Fuencalderaner übersetzt freundlicherweise und der Abend fängt immer mehr an, mich gleichzeitig zu rühren und zu beeindrucken.

Ich bin noch nie dermassen von einem Dorf adoptiert worden wie heute Abend. Angefangen davon, dass Tomás mir heute Nachmittag die Casita zeigte, dass der entspannte Hühnernachbar ebenfalls vollkommen damit einverstanden war, dass ich dort übernachte - eine der Damen steht auf und verschwindet, kommt 10 Minuten später mit zwei Tüten Frühstück "für morgen früh" zurück. Ich bekomme diverse Biere ausgegeben und verpasse natürlich den Moment, mich zu revanchieren.

Nicht nur wegen meiner mangelnden Spanischkenntnisse bin ich sprachlos: Ich hatte erwartet, in dieser Bar heute Abend vielleicht in aller Stille in der Ecke noch ein Bier zu trinken und mich ein bisschen am Feuer zu wärmen. Aber die Freundlichkeit und Zugewandtheit, die ich in diesem Dorf erfahren habe, übertrifft alles, was ich bisher an Gastfreundlichkeit erlebt habe.

Und ich muß zurückdenken an meine Touren in den letzten Jahren, bei denen sich immer wieder die Regel bestätigt hat: Je verletzlicher du bist, desto intensiver ist das Erlebte. Die Heimatlosigkeit und damit die Verletzlichkeit, mit der ich mich am Nachmittag an den Tresen gesetzt habe, nicht wissend, wo ich heute schlafen soll und was aus mir wird, wurde ungefragt 1000fach vergoldet und zurückgegeben. Wie viel anders hätte ich mich gefühlt und wie viel anders hätte ich mich verhalten, hätte ich ein Zimmer in einem schicken Hotel auf booking.com gebucht hätte, das Superior Doppelzimmer mit eigenem Bad. Ich will nicht verschweigen, dass es oft genau so läuft, daß ich lieber vorher was buche, einfach um zu wissen, wo ich abends lande. Aber daß mir heute nochmal vor Augen geführt wurde, wie es auch anders laufen kann und wie wertvoll es sein kann, sich ins Ungewisse zu werfen, ist mir einer der wichtigsten Momente seit sehr langer Zeit.

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Tag 9: Zelten in den Bergen.

Mein neues Lieblings-Hostal am Morgen...
Freitag, 25.10.2019
9. Wandertag
Isuerre nach Pozo Pígalo (Zelt)
7h (inkl. 2h Mittagspause) / 19km 
569m hoch / 386m runter

Bei der Verhandlung der Frühstückszeit für heute morgen habe ich einen strategischen Schlenker nach hinten gebracht. Meine Wirtin bringt erst ihren Sohn zur Schule nach Sangüesa, danach gibt’s Frühstück. Ist zwar ungewöhnlich spät um 0930 Uhr, aber würde ich mich tatsächlich beschweren, wenn ich morgens noch ein bißchen länger im Bett rumhängen kann? Außerdem habe ich heute genug Zeit und kann dann nebenbei noch eines der frisch in Sangüesa gekauften Brote als Proviant einsacken. Kostenpunkt für Zimmer, Abendessen, div. Biere, Frühstück und das Brot: 35 EUR. Gleichzeitig wurde sich lange nicht so liebevoll um mich gekümmert, obwohl ich gestern Nachmittag naß, dreckig und vor allem überraschend zur Tür reingeschneit bin.

Ich verabschiede mich und steige draußen erstmal ein paar Stufen zur Kirche hoch, die golden in der Vormittagssonne glänzt. Die Aussicht geht über das ganze Tal und die Berge dahinter, die ich heute und morgen durchwandern werde. Erst nach einer Minute bemerke ich den alten Mann ein Stück weiter auf der Bank, der sich die Sonne auf die Nase scheinen läßt. Nach einem kleinen Smalltalk – soviel mein Spanisch halt zulässt – ziehe ich los.

Gleich unterhalb vom Dorf ist ein lokaler Wanderweg unten am Fluß entlang ausgeschildert, der allerdings so verwachsen und verwildert ist, daß ich ihn nicht finden kann. Bzw. nicht finden will, denn die Aussicht auf einen Etappenbeginn im taunassen Unterholz ist nicht so ganz das, was mich zum Schwärmen bringt. Also bleibe ich auf der Straße, was auch wieder nicht so schlimm ist, denn ich kann dabei in die wärmende Vormittagssonne blinzeln. In der nächsten Stunde begegnet mir genau ein Auto.

Kurz vor Lobera d'Onsella kommt mir plötzlich meine Wirtin von gestern Abend auf einem Quad entgegen, hupt, winkt und ist schon wieder vorbei. Ich hab sie wenigstens gerade noch rechtzeitig unter dem Helm erkannt, um freundlich zurück zu winken. Am Rand von Lobera d'Onsella studiere ich noch die Informationstafel mit den eingezeichneten Wanderwegen, ohne deutlich schlauer daraus zu werden. Es gibt wohl außer dem Weg, den ich mir ausgesucht habe, noch einen anderen Wanderweg, aber wenn der genauso mies begangen ist wie der Weg von vorhin, dann bleibe ich für meinen Weg hoch in die Berge vielleicht doch lieber auf der Piste. Wie zur Bestätigung hält ein rumpeliger Geländewagen neben mir und ein älterer Herr mit einem noch viel älteren Beifahrer fragt nach dem Wohin. Ich erkläre so gut es geht, als Antwort kriege ich einen Redeschwall zurück, in dem mehrmals das Wort „Pista“ stark betont herausfällt. Ich deute das als klare Empfehlung, auf der Piste zu bleiben.

Also schraube ich mich die nächsten 2,5 Stunden auf der sonnigen Schotterpiste hoch in die Berge, kann bald von oben auf Lobera d'Onsella und mein gestriges Etappenziel Isuerre gucken, dahinter erstreckt sich der Bergrücken, auf dem ich gestern entlang gewandert bin.

Am mittleren Nachmittag finde ich endlich einen richtig schönen Platz zum Hinsetzen. Die Aussicht auf die Sierra de Santo Domingo ist fantastisch, leichter Wind zieht den Hang entlang, die Sonne scheint, blauer Himmel. Und wenn ich mich ein bißchen strecke, sehe ich die schneebedeckten Pyrenäen (im Reisekatalog heißt das glaube ich „seitlicher Meerblick“). Nach einem kleinen Imbiß dauert's nicht lange und mir fallen die Augen zu, ich döse in den Nachmittag hinein. In diesem Moment genieße ich voll und ganz die Freiheit, die mir das Zelt im Rucksack gibt. Ich muß heute nirgendwo sein, nicht zu einer bestimmten Uhrzeit ankommen, sondern einfach solange laufen, bis ich einen schönen Platz für die Nacht finde.


Nach fast 2 Stunden Pause mache ich mich an das letzte Stückchen Aufstieg, das ich mir vorgenommen habe, schlendere dann in der späten Nachmittagsonne wieder auf der entspannten Forstpiste. Ich treffe meine erste Schlange – fast wäre ich auf sie draufgetreten. Kurz darauf komme ich am Wegweiser des kleinen Wanderweges vorbei, der von Lobera d'Onsella heraufführt (also der Weg, den ich heute Mittag verschmäht hatte): Gute Entscheidung. Schmaler Pfad, sieht schwer nach Schwimmen im Gestrüpp aus. Wahrscheinlich war meine optisch unromantische Piste mit Aussicht doch schöner und entspanner für den Aufstieg.

Gegen 1700 komme ich am Pozo Pígalo an, einem Gebirgstal, das im Sommer einiges an Ausflugsverkehr zu sehen scheint. Picknickbänke, ein Campingplatz (der Ende Oktober natürlich geschlossen ist), der Bach bildet kleine Pools mit Wasserfällen, die im Sommer zum Baden verpflichten. Ende Oktober: Not so much. Auf dem Parkplatz steht ein einzelnes Auto, die dazugehörige Fahrerin liegt in Outdoorklamotten auf einer der Bänke in der Sonne und hat die Augen zugemacht.


Einen besseren Platz für's Zelt finde ich heute wahrscheinlich nicht mehr, also werfe ich den Rucksack ab und erkunde die nähere Umgebung. Mache einen Spaziergang den Bach hinauf, das Ganze wieder zurück in die Gegenrichtung, hoch zur Kuhweide. Dort steht das Refugio del Curro, eine primitive Schutzhütte, die mit ihrem nackten Steinboden allerdings weniger einladend ist als das weiche Gras neben den Picknickbänken. Ich mache ein paar Fotos, streune weiter herum, die Sonne geht langsam unter, das letzte Auto macht sich auf dem Weg ins Tal. Ich esse ein kleines Nachtmahl, baue mein Zelt auf und krieche glücklich in meinen Schlafsack, weil es draußen sehr schnell empfindlich kalt wird.

Dienstag, 29. Oktober 2019

Tag 8: Aussicht vom Feuerwachturm

Alle Parkplätze für mich freigehalten!
Donnerstag, 24.10.2019
8. Wandertag
Javier/Xabier nach Isuerre
7h (inkl. Pause) / 24km 
752m hoch / 587m runter

Die Nacht über hat es fein geregnet, ich hab's am Morgen draußen immer noch plätschern hören. Unten beim Frühstück erwartet mich ein Gewusel aus spanischen Rentnern – gestern Abend ist passend zur Essenszeit noch ein ganzer Reisebus vorgefahren, womit ich eindeutig nicht mehr der einzige Gast war. Besser so...

Beim Schritt auf die Straße habe ich die Regenjacke schon übergeworfen und den Regenschirm drohend in der Hand. Scheint zu wirken, der Regen hört gerade wieder auf. Die erste Stunde Weg tröpfelt es noch ein bißchen vor sich hin, aber immer gerade nur so viel, daß man es gut ignorieren kann. Ringsrum in den Bergen allerdings hängen die Wolken noch fett und schwer, die Sonne wird heute kein leichtes Spiel haben.

Kurz vor Undués de Lerda treffe ich auf den Jakobsweg (also einen großen Jakobsweg...), richtig mit Markierungen und Schildern und allem Tamtam. Allerdings laufe ich quasi in die entgegengesetzte Richtung. Im Matsch sehe ich mindestens zwei verschiedene Fußspuren, die hier heute schon unterwegs waren. Und beim nächsten Anstieg treffe ich noch zwei Pilger, die heute wohl etwas später in Undúes gestartet sind. Ich bin so mit Aufstieg und Atmen und Keuchen beschäftigt, daß für einen Plausch nicht viel Zeit bleibt und so geht jeder seiner Wege.

Mein Weg geht heute erstmal nur Richtung oben. Die Etappe ist einfach gestrickt: 750m aufsteigen, oben auf dem Grat entlang bis zur Ermita de la Magdalena, dann wieder absteigen. Und so geht es die ersten vier Stunden fast kontinuierlich bergauf. Trotz immer noch mieser Kondition funktioniert das schon ein ganzes Stück besser als letzte Woche. Will sagen: Selbst ein altersschwacher Körper wie meiner scheint sich noch an solche Zumutungen gewöhnen zu können. Soll er mal besser!


Die Ermita de la Magdalena ist sowohl höchster Punkt als auch Höhepunkt des Tages. Die vier Stunden Aufstieg habe ich ohne Pause abgespult, jetzt mache ich erstmal in Ruhe Mittag. Die Sonne kommt raus, meine durchgeschwitzten Klamotten trocknen im Wind und ich habe mir was Warmes angezogen, Mütze dazu – so läßt es sich aushalten. Ich erleichtere den Rucksack um einen Apfel und ein bißchen Schokolade und fasse dann den Feuerwachturm gleich neben der Ermita ins Auge. Beim Vorbeigehen vorhin habe ich doch gesehen, daß das Vorhängeschloß an der Umzäunung nur vorgehängt, aber nicht eingerastet ist? Bingo! Mit ein bißchen Fummeln öffnet sich der Zaun und ich steige den Turm hoch. Die letzte Plattform ist leider abgeschlossen und ich stehe auf der Eisenrost-Treppe und mache Fotos vom Panorama ringsum, als mir dann doch beim Runtergucken leicht schwindelig wird. Verfluichte Höhenangst. Schnell Fotos gemacht, schnell wieder runter, Schloß vorhängen und wieder in die Sonne setzen.


Die letzten Stunden sind Genußwandern zwischen herbstbunten Eichen und Aussicht auf die Bergkette, die ich morgen und übermorgen durchqueren werde. Von hinten zieht noch ein Regenschauer durch das Tal heran, dem ich noch zehn Minuten zuschaue, bevor ich mich an den Abstieg mache. Selten habe ich mich im positiven Sinne so sehr von der Zivilisation entrückt gefühlt wie auf diesem Bergkamm hier oben, ganz alleine im Wind.

Genau mittig geht's morgen über die Berge...

Aber ein bißchen Zivilisation hätte ich heute noch gerne, ich habe unten im nächsten Dorf (Isuerre) das Bar-Restaurante-Hostal „El Balcón d'Onsella“ ins Auge gefasst. Vielleicht gibt’s da noch ein Zimmer für mich. Wenn nicht, werde ich halt weiterziehen und Zelten. Die Eingangstür ist geschlossen, aber dahinter rumort es, der Wirt schließt auf und verweist auf seine Frau. Die versorgt mich erstmal mit einem Bier, während sie schnell nochmal durchs Zimmer feudelt.

Zum Abendessen wieder runter, die Bar ist bis auf den letzten Tisch mit kartenspielenden Damen besetzt. Ich setze mich an den Tresen und lasse den Trubel auf mich wirken. Die Wirtin meint es wirklich gut mit dem nassen Wanderer, der da am späten Nachmittag zur Tür reinkam. Im Kamin brennt ein Feuer, im Fernsehen läuft ein spanisches Quiz. Eine Riesenportion Spaghetti mit Pilzen als Vorspeise, Schweinefleisch mit Pommes als Hauptgang, dazu ein riesiger Salatteller (den ich mit größtem Heißhunger vertilge). Erstmals in der Geschichte dieser Reise lehne ich das Angebot eines Desserts ab. Ich bin voll. Und verdammt zufrieden.

Montag, 28. Oktober 2019

Tag 7: Bummeltag mit Wow-Effekt

Blick zurück auf Lumbier mit Idyllenschwerpunkt Puente.
Mittwoch, 23.10.2019
7. Wandertag
Lumbier nach Javier/Xabier
4,75h (schon wieder ohne Pause) / 19km 
283m hoch / 225m runter

Durch den wolkenverhangenen Hinmel draußen wird es gefühlt noch später hell als sonst, erst um 0900 Uhr ist das Licht draußen so weit angeknipst, daß ich mich aus dem Bett bequemen mag. Ist aber auch nicht weiter schlimm heute, ich habe mir nur eine kurze Etappe vorgenommen und freue mich auf einen kleinen Tag.

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund habe ich keine Lust auf Frühstück und stelle mich statt dessen direkt raus auf die Straße. Gleich hinter den Gärten beginnt der/die/das Foz de Lumbier, eine tiefe Schlucht, den der Fluß Irati in die Berge geschnitten hat. In den 1910er Jahren wurde in den Canyon auch noch eine Bahnlinie hineingefräst, die allerdings nur bis ca. Kriegsende existierte. Heute: Ein weiterer Grund, Touristen willkommen zu heißen. Ich komme und gucke und staune, während ich durch die Schlucht wandere, dabei zieht von hinten ein ordentlicher Regenschauer heran. Es wird der Einzige für heute bleiben.


Den Rest des Weges bis in nächste Dorf (Liédena) folge ich weiter der ehemaligen Eisenbahntrasse. In Liédena hat sich die Gemeinde was besonders Nettes/Verspieltes für die Pflasterung des Weges ausgedacht: Eisenbahnpflaster. Noch ein letztes Mal über den Fluß Irati, danach muß ich die nächsten Kilometer die Landstraße nehmen. Keine Alternative. Man köööönnte ja weiter bequem auf der ehemaligen Bahnstrecke laufen, wenn jemand die eingestürzte Brücke da drüben wieder aufgebaut hätte, aber nix. Also kämpfe ich mich die nächste Stunde mit LKWs, Autos, Umspannwerk und Industriegebieten ab, bevor als krönender Höhepunkt das Papierwerk von Smurfit Kappa schlimm aussieht und schlimm riecht.


Aber alles halb so wild, auch diese Straßenetappe geht zu Ende. Ich biege von der Straße ab, runter in die Gärten vor Sangüesa, und wechsele dabei fast unbemerkt von der Provinz Navarra in die Provinz Aragón. Die Sonne kommt raus und es dampft. Praktischerweise erreiche ich den Ort vor der Mittagspause, also kann ich im nächstbesten Supermarkt nochmal ordentlich Proviant fassen. Das macht den Rucksack zwar unangenehm schwer, aber es macht auch Sinn, denn hier ist wahrscheinlich die letzte EInkaufsmöglichkeit für die nächsten Tage. Mit Blick auf die Karten gehe ich im Moment davon aus, daß ich ab morgen 2 oder 3 Nächste im Zelt in den Bergen verbringen werde, bevor ich weiter östlich wieder ins Tal des Gállego und in Richtung Saragossa absteigen werde. Kleine Zivilisationspause also...

Hinter Sangüesa geht's wieder rauf in die Hügel, aus dem Gebüsch links und rechts des Weges riecht es nach Kamille, nassem Gras und nach Wildschweinen. In einem kleinen geschützten Tal sehe ich die ersten Olivenbäume dieser Tour - letztes Jahr in Andalusien hatten mich Oliven als quadratkilometergroße Monokulturen begleitet.





Noch ein kleines Stück Landstraße, dann treffe ich auf das Castillo de Javier und die dazugehörige Basilika, gleich gegenüber liegt mein Hotel. Angesichts der Parkplätze ringsum sind sie hier auf Massentourismus eingerichtet, aber ich bin offensichtlich gerade der Einzige hier. Mein Zimmer ist noch nicht fertig, ich bin zu früh da, also werfe ich den Rucksack ab und gehe rüber, die Burg besichtigen. Die Dame an der Kasse ist offensichtlich ganz froh, daß endlich mal jemand auftaucht,. Ich habe die ganze Burg und das ganze Museum für mich alleine, nur begleitet von der Stimme des Audioguides. Zum Abschluß des Rundgangs setze ich mich noch - ganz entgegen meiner Gewohnheiten - in der Basilika auf eine der Kirchenbänke und genieße die Stille des Raums, die Beleuchtung und die Tatsache, daß ich ganz alleine hier bin. Draußen auf dem Vorplatz sitzt immer noch die schwarze Katze von vorhin und blinzelt in die Nachmittagssonne. Was für ein entspannter Tag.