Donnerstag, 31. Oktober 2019

Tag 10: Vom Dorf adopiert.

Samstag, 26.10.2019
10. Wandertag
Pozo Pígalo (Zelt) nach Fuencalderas
6,5h (inkl. Pausen) / 16km 
613m hoch / 581m runter

Die Nacht war kälter als gedacht – will meinen: Mein Schlafsack war mal wieder dünner als sinnvoll. Mein Zelt ist so feucht von Tau und Kondenswasser, als ob es geregnet hätte. Die Sonne hat das tief eingeschnittene Tal noch nicht erreicht und es ist kühl, naß und ungemütlich. Ich stapfe auf der Wiese herum wie ein Extrem-Morgenmuffel, der noch keinen Schuck Kaffee bekommen hat.

Gegen 0830 Uhr höre ich das erste Auto den Berg heraufkommen, während ich gerade frühstücke. Es sind die Betreiber des Campingplatzes, die offensichtlich für das anstehende Schönwetter-Wochenende nochmal die Bar öffnen wollen. In der nächsten halben Stunde geht es Schlag auf Schlag mit ankommenden Autos und ich beeile mich, endlich mal in die Puschen zu kommen.

Ich steige auf der Forstpiste wieder ein Stück hinauf, zurück zum Abzweig des GR 1, des Sendero Histórico, ein spanischer Fernwanderweg vom Atlantik zum Mittelmeer. Der Pfad ist hervorragend markiert und von Gestrüpp freigeschnitten, also steige ich motiviert die nächste Stunde durch schattige morgenkühle Täler auf die Hochalm Casa de las Casas zu. Dort kriege ich endlich die Sonne zu sehen und kann nicht anders, als mich erstmal 10 Minuten auf einen Stein zu setzen und die Wärme zu genießen.


Weiter auf schmalen Räuberwegen zum nächsten Sattel, dem Collado de Erica la Fosa, von dort oben hör ich schon von Weitem Stimmen. Ok, ist ja auch Samstagmittag, irgendeine Gruppe scheint da oben unterwegs zu sein. Als ich am Sattel ankomme, sind sie schon weiter, ich habe das Panorama runter ins Tal Richung Biel für mich alleine. Beim Abstieg komme ich an alten verlassenen Steinterrassen vorbei, verfallenen Steinhütten – Zeichen davon, daß dieses Tal und diese Bergflanken mal bewohnt und bearbeitet wurden.


Aber lange vorbei, bis zum nächsten Ort Biel gibt es heute nur noch nen Parkplatz und eine Schotterpiste, auf der mir die nächsten Wochenendausflügler entgegen kommen. Biel duckt sich unter seinem zentralen Wehrturm, dem „Torre de Biel“ zusammen, die schmalen Gassen und uralten Holztüren wirken schwer aus der Zeit gefallen. Aber mein Kopf ist sowieso schon auf was Anderes ausgerichtet: Ich hab Hunger! Dieses ewige Snacken aus dem Rucksack ist ja nix Nchhaltiges und in Biel gibt es ein Restaurant, das natürlich an einem sonnigen Samstag zur Mittagszeit bumsvoll ist. Der Wirt hebt entschuldigend die Schultern, Mittag ist aus, macht mir aber zwei lecker Bocadillos mit Schinken und Tomate, dazu gibt’s eiskalte Cola und mehr wollte ich ja eigentlich gar nicht.



Durch die Berge bin ich jetzt für Erste durch, mehr oder weniger. Hier in Biel gibt’s nix zum Übernachten, nur eine leicht überteuerte Casa Rural für über 100 EUR die Nacht. Also ziehe ich weiter, vermutlich werde ich irgendwo zwischen den Feldern und Hecken auf der Strecke von Biel ins nächste Dorf Fuencalderas zelten. Die Landschaft hat sich schwer geändert, statt Bergwald und steilen Hängen hat es jetzt eher sanfte Hügel, kleine Felder mit Busch- und Gestrüppinseln dazwischen. Ich könnte auch auf der Straße nach Fuencalderas gehen, viel ist da eh nicht los, aber der GR1 läuft parallel auf alten Caminos und schmalen Pfaden zwischen den Welten hindurch. Der GR1 ist hier wenig begangen, das Unterholz hat an vielen Stellen schon den Weg wieder verschluckt und Büsche als Fallen ausgelegt – normalerweise würde ich wahrscheinlich schon bald genervt zur Straße rüberwechseln. Aber ich hab irgendwie im Urin, daß mir die Straße heute keinen Zeltplatz servieren wird, sondern dieser schöne – wenn auch anstrengende – Pfad zwischen den Feldern. Also kämpfe ich mich durchs Gestrüpp.


Kurz vor Fuencalderas liefert der Pfad dann auch: Eine frisch gemähte Wiese neben einem Wasserreservoir, kaum einsehbar, eigentlich perfekt für's Zelt. Es ist erst 1600, was ich ein bißchen früh für Schlafenszeit finde, also steige ich noch mit Sack und Pack hoch ins Dorf. Dort lockt die theoretische Aussicht auf eine Bar und siehe da, sie ist geöffnet, verkauft mit halbgefrorenes Bier und eiskalte Cola, ein Typ mit ein paar zuviel halbgefrorenen Bier intus spielt DJ am Tresen und hämmert einen 90er-Jahre-Rockklassiker nach dem anderen raus. Mehr pro forma frage ich den Wirt, ob es hier im Ort irgendwas zum Übernachten gibt, er wiegt bedächtig mit dem Kopf und fängt an, mir irgendwas zu erklären. Weil mein Spanisch dazu nicht reicht, läßt er den DJ alleine machen, winkt mich zur Tür raus, wir biegen um 2 Ecken und er zeigt auf eine alte Steinhütte am Hang, vielleicht 250m weiter. Dort könne ich schlafen. Die Hütte sei offen und für jedermann zugänglich. Ich sehe aus der Entfernung eine Bank daneben, sehe ein ordentliches Dach und habe mich in dem Moment schon entschieden. Da bleibe ich.

Zurück in der Bar trinke ich noch mein Bier aus, mein Rucksack wartet derweil draußen auf mich. Ein Nachbar schlendert vorbei, mustert interessiert und amüsiert mein Gepäck, setzt sich dann vor sein Haus und beginnt, in der Nachmittagssonne Walnüsse zu knacken. Ich ziehe rüber in die Casita und bin positiv überrascht: Die Hütte wurde vor kurzem renoviert, der Boden riecht noch nach nassem Beton und Baustaub, es gibt einen Tisch und vier Stühle, ein Bettgestell (Isomatte und Schlafsack drauf, das passt schon), eine Bank zum Draußensitzen und Aussicht auf's Dorf. Wasser oder Klo gibt’s nicht, aber wozu hat man da drüben die Bar...


Ich sitze glücklich in der Nachmittagssonne – nicht, weil Zelten heute so schlimm gewesen wäre, sondern weil ich diese Lösung nochmal viel charmanter finde. Ein Geländewagen biegt von der Straße ab und kommt den Weg zu mir rauf, es ist der nächste Nachbar, der im Garten nebenan nochmal schnell die Hühner rauslassen will. Wir quatschen ein bißchen, während er die Hühnermeute picken läßt, ich frage ihn zur Sicherheit auch nochmal, ob ich hier übernachten kann: Kein Problem. So entspannt läuft das also in Fuencalderas.

Mitte rechts,  am Ende des Wegen: "Meine" Casita für heute Nacht.

Auf meiner Bank vor der Hütte wird es kalt, ausserdem habe ich noch Lust auf was zu Trinken, also mache ich mich stadtfein und gehe wieder rüber zur Bar. Im Kamin brennt ein Feuer, es ist angenehm warm, ich bestelle mir ein Bier und werde recht schnell der Gesprächsmittelpunkt des Abends. Zwei Paare, die in Zaragoza wohnen, und fürs Wochenende in ihrem alten Heimatort Fuencalderas sind, ihre Teenie-Kinder sitzen draußen vor der Bar und daddeln mit dem Handy. Der alte Mann am Tresen in seinem 30 Jahre alten Strickpullover, dessen Spanisch so weit weg ist von dem, was ich verstehen könnte. Der neugierige Typ mit den Walnüssen, Tomás der Wirt. Er entspannte Hühnernachbar schaut später auch noch vorbei. Ich erzähle 85% englisch, 10% französisch und 5% spanisch, einer der Wochenend-Fuencalderaner übersetzt freundlicherweise und der Abend fängt immer mehr an, mich gleichzeitig zu rühren und zu beeindrucken.

Ich bin noch nie dermassen von einem Dorf adoptiert worden wie heute Abend. Angefangen davon, dass Tomás mir heute Nachmittag die Casita zeigte, dass der entspannte Hühnernachbar ebenfalls vollkommen damit einverstanden war, dass ich dort übernachte - eine der Damen steht auf und verschwindet, kommt 10 Minuten später mit zwei Tüten Frühstück "für morgen früh" zurück. Ich bekomme diverse Biere ausgegeben und verpasse natürlich den Moment, mich zu revanchieren.

Nicht nur wegen meiner mangelnden Spanischkenntnisse bin ich sprachlos: Ich hatte erwartet, in dieser Bar heute Abend vielleicht in aller Stille in der Ecke noch ein Bier zu trinken und mich ein bisschen am Feuer zu wärmen. Aber die Freundlichkeit und Zugewandtheit, die ich in diesem Dorf erfahren habe, übertrifft alles, was ich bisher an Gastfreundlichkeit erlebt habe.

Und ich muß zurückdenken an meine Touren in den letzten Jahren, bei denen sich immer wieder die Regel bestätigt hat: Je verletzlicher du bist, desto intensiver ist das Erlebte. Die Heimatlosigkeit und damit die Verletzlichkeit, mit der ich mich am Nachmittag an den Tresen gesetzt habe, nicht wissend, wo ich heute schlafen soll und was aus mir wird, wurde ungefragt 1000fach vergoldet und zurückgegeben. Wie viel anders hätte ich mich gefühlt und wie viel anders hätte ich mich verhalten, hätte ich ein Zimmer in einem schicken Hotel auf booking.com gebucht hätte, das Superior Doppelzimmer mit eigenem Bad. Ich will nicht verschweigen, dass es oft genau so läuft, daß ich lieber vorher was buche, einfach um zu wissen, wo ich abends lande. Aber daß mir heute nochmal vor Augen geführt wurde, wie es auch anders laufen kann und wie wertvoll es sein kann, sich ins Ungewisse zu werfen, ist mir einer der wichtigsten Momente seit sehr langer Zeit.

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