Montag, 2. Dezember 2019

Tag 36: Eine Landstraße ganz für mich allein.

Chelva, Ermita de Santa Cruz
Mittwoch, 27.11.2019
36. Wandertag
Chelva nach Chulilla (abseits des GR7, da keine Unterkunft in Benagéber gefunden)
6,75h (inkl. Pausen) / 23km
473m rauf / 638m runter

Endlich merke ich den Gewichtsunterschied des Rucksacks, so ganz ohne Campingkram. In den letzten Tagen habe ich genug von den absurden Proviantmengen wegschnabuliert, die ich noch vor Tagen in Montanejos gebunkert hatte. Damit ich nicht verzärtele, peile ich am Morgen erstmal die Panaderia um die Ecke an, um wieder Gewicht drauf zu packen. Brot, is klar. Ein Stück Pizza, gerne. Empanadas con "Queso Azul", eher nicht. Aber hier, mal was Neues: Ein gezuckertes Hörnchen, gefüllt mit Vanillecreme.

Ich bummele noch ein wenig durch die Gassen von Chelva, die Altstadt ist schmal und verwinkelt. Autos haben hier absolut nichts verloren. Statt dessen sind viele Gassen mit Pflanzen dekoriert, an vielen Häusern sieht man noch Einflüsse bzw. das Erbe der Mauren, die im 11. Jahrhundert mit dem Bau einer Festung die Grundsteine für den heutigen Ort Chelva legten. Durch das Labyrinth der Gassen wandere ich Richtung Schlucht, eine Treppe führt mich auf Serpentinen zwischen Gärten und Kakteenhainen runter zum Fluß und auf der anderen Seite wieder rauf.


Die erste Stunde folge ich der vorbildlich ausgeschilderten "Ruta de Agua" durch die Schlucht des Rio Tuéjar. Die lokale Jugend hat auf den nächsten Kilometern zuverlässig auf allen Schildern das "R" zu "Puta de Agua" umgewandelt. Nach dem Zwischenstop an der Ruine des alten Wasserkraftwerks tauche ich gefühlt in den Dschungel ein. Schilf und Bambus wachsen meterhoch, das Dickicht der Büsche links und rechts wird undurchdringlich, nur ein kleiner Pfad schlängelt sich immer weiter - mal am Boden der Schlucht, mal oben am Hang. Ich freue mich über den abwechslungsreichen Weg; die Sonne und das gleißende Licht, daß sie über die Landschaft ausgießt; die Aussicht im Allgemeinen und im Speziellen, vor allem, als sich der Weg unter einer 30m hohen Felswand hindurch duckt.


Der Weg spuckt mich kurz vor Calles wieder aus dem Barranco aus, das Tal wird breiter und die ersten Gärten liegen wieder neben dem Fluß. Ich laufe an Orangenbäumen vorbei, die herrlich golden im Sonnenlicht leuchten. Kurz bevor ich durch den Ort laufe, muß ich mir dringend die Hosenbeine hochkrempeln. Obenrum hat schon heute früh ein T-Shirt ausgereicht. Es ist inzwischen mit 16 Grad fast sommerlich warm - ätsch, Berlin.

Dafür, daß der heutige Tag eigentlich ja "nur" eine Notetappe ist, um den Weg nach Benagéber zu vermeiden (wo ich keine Übernachtungsmöglichkeit auftreiben konnte), bin ich bisher total begeistert. Der erste Teil durch den Barranco war optisch der Knaller - ich stelle mich im Geiste aber schonmal darauf ein, daß es mit der gefühlten Idylle hinter Calles deutlich bergab gehen wird. Auf der Karte habe ich keine passenden Wege gefunden, also heißt es ab jetzt großflächig: Straße. Seufz.


Aber ich habe verdammtes Glück. Neben der rauschenden Nationalstraße liegt noch die alte Landstraße, die einfach nicht abgerissen wurde, nachdem die neue große Straße gebaut wurde. Also habe ich diese alte Landstraße ganz für mich alleine. Von den einst zwei Fahrspuren sind nur noch zwei halbe Spuren übrig, den Rest hat sich der Busch schon Stück für Stück wiedergeholt. Vorbei an einem kleinen Stausee und Flutflächen, die schon zur riesigen Embalse de Loriguilla gehören (dem Stausee, der sich im Tal nebenan kilometerweit bis runter nach Chulilla ausdeht). Als ich zur Mittagspause auf einem alten Kilometerstein sitze, brettert ein Kampfjet der spanischen Luftstreitkräfte im Tiefflug über mich hinweg (für alle Nerds: es war ein F/A-18), Flughöhe vielleicht 400 oder 500m über Grund, und es fühlt sich genauso einschüchternd an, als wäre man mitten in einem Gewitter. Mein plötzlich auf Überlebensreflexe reduziertes Ich kann nicht anders, als den Kopf einziehen und hoffen, daß der ohrenbetäubende Krach bald vorbeigeht.

Als ich mich wieder gesammelt habe, stelle ich entgeistert fest, daß ich mit der Mittagspause schon meinen gesamten Getränkevorrat ausgetrunken habe. Hoppla. Dabei habe ich heute noch nicht mal die Hälfte der Etappe rum. Dann heißt es jetzt eben: Vorfreude aufbauen auf's Ankommen, wenn ich mich schön unter den Wasserhahn hängen kann. Denn die nächsten Kilometer gehen durch Feld und Wald, da werde ich keine Quelle finden.



Auf alten ausgedienten Serpentinen durchquere ich den nächsten Barranco, am Straßenrand stehen noch die alten Schilder, auch wenn hier schon seit Jahren oder Jahrzehnten kein Auto mehr gefahren ist.

Hinter dem nächsten Berg biege ich nach Süden ab, auf der Karte hatte ich mir eine schicke Route rausgesucht, die mich durch das weite Tal vor mir bis kurz vor Chulilla bringen sollte. Aber die angepeilte Piste verliert sich schon nach ein paar hundert Metern im Gebüsch, ich schlage mich durchs Unterholz und kämpfe mich durch Sträucher und Bäume. Gott sei Dank kann ich elegant die Hosenbeine wieder runterkrempeln und wenigstens blutige Beine vermeiden. An den Armen klappt das nicht ganz so gut, und als ich eine halbe Stunde später wieder auf einer halbwegs vernünftigen Piste stehe, lecke ich erstmal meine Wunden, verfluche meine DIY-Routenfindungen durch das stachelige spanische Hinterland und tröste mich mit der schicken Aussicht.

Bushwhacking voraus.

Als der Asphalt wieder anfängt, bringt er auch den Tourismus mit. Oberhalb von Chulilla laufe ich durch ein Meer aus Campingfahrzeugen, Wohnmobilen und den klassischen "improvisierten Kletter-Transportern", die sich in allen möglichen Ecken der Wege und Parkplätze abgestellt haben. Spanier, Deutsche, Franzosen, Tschechen, Briten, Schweden, Schweizer. Chulilla ist tatsächlich ein Kletterziel, die senkrechten Felswände ringsum lassen mich das nicht im Geringsten bezweifeln. Ich mache einen Abstecher zum Aussichtspunkt Charco Azul, staune in die Schlucht des Rio Turia hinunter und merke mal wieder, daß ich nicht schwindelfrei bin. Außer mir: keine Sau hier. Aber: Wow!


Chulilla macht ordentlich Siesta, als ich gegen 1630 Uhr in den Ort einreite. Ist ja auch irgendwie verständlich, bei 19 Grad und sengender Sonne... Ich verlaufe mich irgendwie ziemlich doof in den schmalen Gassen und stehe nach einer Viertelstunde wieder auf dem zentralen Platz, von dem aus ich vorhin die Suche nach meinem Hostal gestartet hatte. Aber als ich mein Hirn einschalte, geht alles ganz schnell; ich greife mir von der Bar des Hostal noch zwei Hand voll Getränke als Ankunftsparty: Ne Cola, ein Bier und eine Literflasche Wasser. Alles in weniger als 10 Minuten weggetrunken.


Das Abendessen im Hostal ist hervorragend und damit quasi die Krönung eines tollen Tages. Das herrliche Wetter führt wieder dazu, daß es einfach Spaß macht, tagsüber ein bißchen am Wegesrand in der Sonne zu sitzen, dumm in die Landschaft zu gucken und sich nicht um die Uhrzeit zu scheren. Und als ich nach dem Abendessen noch mein Bier austrinke, muß ich voller Zufriedenheit darüber nachdenken, daß ich gerade genau das bekomme, was ich mir von Spanien gewünscht hatte: Wandern, tolle Landschaft, warmes Wetter. Trotz aller Mühe mit Unterkünften und trotz allem Gemosere über sonstige Kleinigkeiten überwiegt diese Zufriedenheit gerade ganz stark - und ich bin sehr glücklich, hier unterwegs zu sein.

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