Mittwoch, 4. Dezember 2019

Tag 38: Der gefürchtete Zaun.

Chera! Wieso kümmert sich niemand um diesem Fiat 600?!
Freitag, 29.11.2019
38. Wandertag
Chera nach Requena
6h (inkl. Pausen) / 24km
506m rauf / 459m runter

Chera. Geil ist anders.

Frühstück ist in der Albergue nicht, also raus auf die Straße. Panaderia auschecken. Immerhin: Gute Auswahl, es gibt Pizzastücke und Empanadas, gefüllt mit Pilzen, Paprika und Tomate. Endlich mal was ohne Thunfisch... Der kleine Lebensmittelladen hat tatsächlich geöffnet, als ich den kantigen Typen hinter dem Tresen sehe, weiß ich auch, warum der Laden gestern am frühen Abend geschlossen war. Der Herr saß in der Bar am Nebentisch und hat Karten gespielt. Das Warenangebot ist genauso trostlos und lückenhaft wie die Beleuchtung des Ladens, ich kaufe mir noch eine Fanta Limón und muß dringend aus diesem Dorf raus.


Die Bewölkung von gestern Abend hat sich gehalten, einige der Gipfel ringsum sind heute früh vollkommen in Wolken gehüllt. Ich finde das nur gerecht, schließlich habe ich in den letzten Tagen genug mit dem für diese Jahreszeit viel zu warmen und viel zu sonnigen Wetter angegeben.

Heute wartet eine besondere Etappe auf mich. Ich habe viele Stunden in die Recherche investiert, wie dieser Tag funktionieren könnte. Das Problem: In den Bergen oberhalb von Chera gibt es eine Art "Jagd-Reservat", das aber eigentlich ein riesiges Privatjagdgebiet für wohlhabende touristische Jagdausflügler ist. Zahlreiche Wanderer auf dem GR7 haben von weitläufigen Zäunen und Stahlverhauen berichtet, die sie überklettern mussten, begleitet von drohenden Schildern und dem deutlichen Gefühl, daß Wanderer hier nichts verloren haben. Im Netz fand ich Spuren von jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den Grundeigentümern und den lokalen Behörden, die das Wegerecht wiederherstellen wollten. Aber Verflechtungen "um die Ecke hoch ins Königshaus" haben dazu geführt, daß die Grundbesitzer scheinbar immer noch - und das seit Jahren - dieses viele Quadratkilometer große Stück Land, das sich über mehrere Täler erstreckt, abgesperrt und eingezäunt haben. Und genau da möchte/muß ich heute durch. Einen Weg außenrum gibt es nicht, außer man möchte 22km auf der Straße laufen. Möchte ich nicht.


Aber bevor es ernst wird, gibt's erstmal was für's Auge. Ein weiterer dieser geilen gelben lokalen Wanderwege führt hintenrum nach El Reatillo, durch eine Schlucht, die unten an manchen Stellen nur noch 10 Meter breit ist. Der Bach mittendurch formt kleine blaue Teiche, die Pflanzen ringsum wirken seltsam tropisch und durch die Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit wirkt die Passage durch diesen Barranco wie eine kleine Oase im Nirgendwo. (Ich gebe zu: Mit ein bißchen Sonne hätte es besser ausgesehen.)


Aber gleich hinter der nächsten Ecke hat mich der graue Alltag wieder. El Reatillo ist eine kleine Ansammlung von Häusern, die knapp außerhalb des Jagdgebietes liegt, die einzige Zufahrtsstraße führt durch einen Verhau von 2,5m-Zäunen und Schildern. Betreten verboten! Sicherheitszonen nicht verlassen! Tor wieder schließen! Privat-Jagdgebiet! Gefahr durch starke Jagdaktivitäten! Desinfektion beim Betreten und Verlassen obligatorisch!

Ihr könnt mich mal!

Mißmutig biege ich trotz aller Schilder auf die Asphaltpiste ein. Der gründliche Deutsche in mir hat nämlich schonmal rausgelesen, daß zumindest diese Piste bis zur Straße zwei Kilometer weiter ein "Camino Publico" ist. 

Eine Viertelstunde später fährt ein weißer Pickup an mir vorbei, auf der Tür die Aufschrift "Vigilante" (also Wächter) und daneben noch die spanische Nationalflagge draufgepappt, damit es ein bißchen offizieller aussieht. Spätestens jetzt entscheide ich mich dazu, entgegen meiner üblichen Gewohnheiten heute alle Schilder offensiv zu mißachten. Immerhin grüßt der Fahrer zurück, was allerdings trotzdem meinen einsetzenden Verfolgungswahn nicht abmindert, als ich kurz vor der Straße ins Gelände abbiege. Ich hatte mir beim Kartenstudium ausgedacht, daß ich vielleicht nicht dem GR7 folge, der eine verschlungene Route hoch in die Berge nimmt und dabei auf diverse Zäune stößt, sondern statt dessen der Piste "Rambla de Los Tocares" weiter westlich im Tal folge. Wahrscheinlich wären die Zäune auf dem GR7 kein Problem gewesen, in den letzten zwei Jahren scheinen die Grundbesitzer nach den öffentlichen Diskussionen zumindest Durchlässe für die Wanderer gebaut zu haben. Das Gefühl, dort nicht willkommen zu sein, bleibt allerdings.

Ich mogele mich also am Rand des Jagdgebietes auf einer Piste durchs Tal, man sieht zumindest an den Spuren auf dem Boden, daß hier keine Autos fahren und die Piste nicht oder nur ganz selten benutzt wird. Außerdem bin ich ziemlich froh, daß ich es so einrichten konnte, daß ich hier nicht an einem Wochenende durchlaufe, im November ist schließlich noch so richtig Jagdsaison und die zahlenden Gäste kommen sicher am liebsten am Wochenende.

Innerhalb des Jagdzoos sieht es eigentlich nicht viel...
...anders aus als außerhalb.
Nach einer Stunde stehe ich am nächsten Zaun und sacke schon innerlich zusammen - aber ich habe Glück. Die Tür im Zaun hat zwar ein Vorhängeschloß, das aber nicht abgeschlossen ist, also schlüpfe ich durch die Absperrung und bin wieder draußen. Ohne, daß ich irgendwo drüberklettern musste. Das wäre auch sicher weder mir noch dem Zaun gut bekommen. Einerseits bin ich froh, daß ich aus diesem Jagdzoo wieder raus bin, andererseits frage ich mich: Und deswegen hast du dir so viele Gedanken gemacht?

Eine knappe Stunde später treffe ich den GR7 wieder, der aus den Bergen östlich von mir herunter kommt, aber schon eine halbe Stunde später trennen wir uns erneut. Diesmal für länger. Der GR7 nimmt eine Route über El Rebollar und dann südlich in die Berge, durch Cortes de Pallas und noch mehr Berge bis Vallada. Das wären ca. 2-3 Übernachtungen im Zelt, die für mich ja jetzt nicht mehr in Frage kommen, seit ich meinen Campingkram nach Hause geschickt habe. Und auf ausgedehnte Taxifahren zwischen irgendwelchen Bergpisten im Nirgendwo und dem nächsten Zipfelchen Zivilisation verzichte ich auch gerne. Es würde ja sowieso schon daran scheitern, einem Taxifahrer am Telefon auf Spanisch zu erklären, wo genau er mich abholen soll. Vorausgesetzt, ich hätte überhaupt Empfang... Also habe ich mir statt dessen selber eine Route gezimmert, weiter westlich über Requena - Cofrentes - Ayora - Almansa. Mit Sicherheit deutlich weniger dramatisch, aber das ist mir inzwischen gar nicht mehr so wichtig. Ich will vorankommen!


Also heute nach Requena. Oben auf der Hochebene wird die Erde rot und die Weinreben übernehmen von den sonst vorherrschenden Olivenbäumen. Ich kaue kurz auf der Theorie rum, daß hier mit der Farbe des Bodens auch die angebauten Feldfrüchte wechseln, aber eigentlich habe ich davon keine Ahnung.


Die Annäherung an Requena bringt auf jeden Fall schonmal Infrastruktur in Form der Schnellfahrstrecke der Eisenbahnlinie von Madrid nach Valencia. Irgendwo wartet bestimmt auch noch ne Autobahn auf mich. Aber erstmal zuckele ich hoch auf den nächsten Hügel, der von einer gelben Turmruine geziert wird: Der "Telégrafo de la Atalayuela". Das Ding ist Teil einer Linie von optischen Telegrafen, die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Nachrichtenaustausch auf der Strecke Madrid - Valencia - Barcelona benutzt wurden. Ich kann mir keinen schöneren Job vorstellen, als den ganzen Tag in einem der vielen Fenster des Telégrafo zu stehen, und zu winken. (Gut, ich hätte auch die Infotafel an der Kreuzung übersetzen können, um zu erfahren, wie das damals genau funktioniert hat, aber ich war zu faul...)

Der Telegrafenberg gibt mir nebenbei gleich noch den ersten Ausblick auf Requena, mit 20.000 Einwohnern eine gefühlte Metropole! Häßliche Neubaugebiete, wenig überraschend natürlich auch eine Autobahn, aber immerhin auch eine schöne verwinkelte Altstadt mit einer prächtigen Allee als Flaniermeile mittendurch. Ich nutze den restlichen Nachmittag für die Planung der kommenden Tage und als ich Abends nochmal zum Supermarkt übergehe, ist die Stadt wie verwandelt. Überall Menschen, auf der Straße, in den Cafés, als wäre es eine Nacht im Hochsommer, in der die Hitze des Tages noch nachglüht. Ich bin stelle mir nur ungerührt den Wecker für morgen früh, es wartet eine Etappe weit jenseits der 30km auf mich und ich brauche einen frühen Start.

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